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Grenzkatholizismen: Religion, Raum und Nation in Tirol 1840–1870

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Am Beginn dieses Dissertationsprojektes stand die Frage, wie und weshalb im habsburgischen Kronland Tirol im Laufe des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Formen von Religion, genauer: von Katholizismus, formuliert wurden. Zeitweise war nichts weniger definiert und stärker umstritten, als das Proprium des Katholischen: Katholisch sein, katholisch glauben und katholisch handeln wurde nach markant voneinander abweichenden Maßstäben bemessen. Der Trientner Fürstbischof Benedikt (Benedetto) von Riccabona (1807–1879) etwa sah sich 1861 gezwungen, seiner aus deutsch und italienischsprachigen Katholiken bestehenden „Herde“ zwei nicht nur sprachlich, sondern vor allem inhaltlich stark voneinander abweichende Antrittshirtenbriefe zu erlassen. Hatten seine deutschsprachigen Diözesanen andere religiöse Bedürfnisse und setzten sie andere Erwartungen an ihn, als ihre italienischsprachigen Glaubensgenossen? Die Vermutung liegt nahe, dass, wenn zusätzliche sprachliche, nationale, räumliche oder politische Komponenten in unterschiedlicher Konfiguration hinzutraten, binnenkatholische Grenzen gezogen wurden. Das habsburgische Kronland Tirol erscheint geradezu als religiöses Laboratorium, trafen hier doch Deutschland, Österreich und Italien zusammen, wie es Thomas Götz trefflich formulierte. Die Arbeit untersucht also, wie sich hier zwischen 1840 und 1880 unterschiedliche Formen öffentlicher Katholizität ausbildeten, wie sich selbst und ihre Umwelt beschrieben, wie sie ihre Grenzen zu Nation und Raum, aber auch zum politischen System zogen. Zentral sind auch die Medien religiöser Kommunikation, es machte einen entscheidenden Unterschied, ob diese face-to-face über Predigten oder überpersonal über Zeitungen verlief. Die Geschichte, die die das Projekt schreiben will, ist also eine Beobachtungs- und Mediengeschichte, eine Geschichte des Katholischen, das an Grenzen angesiedelt war und selbst neue Grenzen erzeugte.

 

Theoretische Zugriffe
Das theoretischer Rückgrat bilden Bausteine der Systemtheorie Niklas Luhmanns, vor allem der Religionsbegriff wurde ihr entnommen: Religion existiert demnach gesellschaftlich ausschließlich als Kommunikation und ist erst als solche beobachtbar; religiöse Kommunikation grenzt sich von anderen Kommunikationsformen durch spezifische Codierungen ab. Dieser Zugriff ist in mehrfacher Hinsicht günstig: Er gibt einerseits ein bestimmtes Arbeits- und Quellendesignvor, ist aber andererseits ergebnisoffen gedacht, was teleologische Argumentationen verhindert. Beobachtungen, Selbstbeschreibungen und Semantiken des Katholischen verweisen auf Kommunikationsmedien. Im systemtheoretischen Kommunikationsbegriff sind Medien in Form der Mitteilung schon mitgedacht: Ob Kommunikation zu Stande kommt hängt wesentlich von den Medien – der Mitteilung – ab. Religiöse Medien sind somit nicht nur die Quellengrundlage für das Projekt, sondern auch dessen Untersuchungsgegenstand.

 

Regionalhistorischer Beitrag
Trotz einiger Vorarbeiten gilt es mehrere Forschungslücken als solche erkenntlich zu machen und zumindest teilweise zu füllen. Zunächst soll ein erhebliches regionalgeschichtliches Desiderat behoben werden und eine Beziehungsgeschichte der Katholizismen nördlich und südlich des Brenners, ungeachtet staatlicher oder sprachlicher Grenzen, geschrieben werden. Zweitens erlaubt gerade die tirolische Sprachgrenze italienisch und deutschsprachige katholische Kulturen miteinander in Beziehung zu setzen. Während in den letzten Jahren derartige grenzübergreifende und grenzreflektierende Vergleiche vornehmlich in osteuropäischen Grenzräumen durchgeführt wurden, sind religionshistorische Beziehungsgeschichtenzwischen Deutschland, Österreich und Italien bislang kaum anvisiert worden. Auch „Raum“ als Kommunikation ordnendes Element wurde von religionshistorischen Arbeiten bislang nur unzureichend wahrgenommen, ebenso wie transnationale Perspektiven erst in den letzten Jahren angestrebt werden.

 

Quellen
Die Arbeit steht vor der Herausforderung, ganz unterschiedliche Quellenlagen und Quellentypen handhaben zu müssen.  Prinzipiell ist jede Form religiöser Kommunikation von Interesse: Handschriftliche und gedruckte Predigten, religiöse Vorträge an der Roveretaner Accademia degli Agiati, Hirtenbriefe und bischöfliche Instruktionen an den Klerus, religiös-politische Broschüren und Flugblätter, vor allem aber religiöse Zeitschriften und Zeitungen. Wichtig sind aber auch religiöse Massenveranstaltungen, die den öffentlichen Raum selbst als Medium religiöser Kommunikation nutzten. Der Großteil der aufgelisteten Quellen ist an öffentlichen Bibliotheken in München, Innsbruck, Bozen, Trient, Rovereto und Mailand problemlos zugänglich. Ergänzt wird dieser Quellenkorpus durch Akten kirchlicher Archive in Brixen, Trento und St. Pölten, sowie der staatlichen Verwaltung im Tiroler Landesarchiv in Innsbruck.

 

Struktur und Gliederung
Die Struktur der Arbeit verbindet inhaltliche und chronologische Gesichtspunkte. Ihre Gliederung in drei Zeitabschnitte (1830-1848, 1850-1866, 1867-1875) soll ersichtlich machen, wie sich á la longue die öffentlichen Formen des Religiösen, aber auch Raum und Geschlechtervorstellungen und generell der Einfluss von Medien auf religiöse Kommunikation entwickelten. Innerhalb dieser Blöcke sollen thematische Detailbeobachtungen einen multiperspektivischen Zugriff erlauben. Der Leitfaden, an welchem sich diese orientieren, ist von den zentralen thematischen Feldern vorgegeben: Die Beziehungen der Grenzkatholizismen zueinander, zu nationalen und räumlichen Semantiken, ihr Beitrag zur politischen Kommunikation und der Ausbildung von Geschlechterbildern.