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Zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert hinterließen die nationalstaatlichen Integrationsprozesse tiefe Spuren in den Gemeinschaften des Alpen-Adria Raums – jenem geografischen Gebiet, das heute zwischen Italien, Österreich, Slowenien und Kroatien aufgeteilt ist. Zwei Weltkriege und autoritäre Regime haben diese Region zerrissen, die über Jahrzehnte hinweg von Gewalt, politischer Spaltungen und Phasen der Intoleranz geprägt war. Während des Kalten Krieges wurde die Region nicht nur durch den Einfluss internationaler Akteure wie der CIA und der NATO, sondern auch durch staatliche Behörden hochgradig militarisiert. Grenzen wurden unter strenger Kontrolle gehalten, ein System der ideologischen Überwachung sowie subtiler sozialer Kontrolle erzeugten ein dauerhaftes Klima des Misstrauens. Diese Brüche reduzierten das Gebiet zu einer Peripherie und machten es – in den Augen der Öffentlichkeit – zu einer symbolischen Frontlinie im ideologischen Konflikt zwischen Ost und West.
Dieses Projekt untersucht, wie die Grenzgemeinschaften diese spaltende Ordnung ab den späten 1950er-Jahren aktiv in Frage stellten. Durch alltägliche Handlungen und grenzüberschreitende Kooperation begannen sie, die Erzählung eines ideologisch strikt getrennten Europas zu unterlaufen. Intellektuelle, lokale Politiker:innen, Tourismusverantwortliche, Wirtschaftsakteur:innen und weitere engagierte Personen prägten das Konzept „Alpe-Adria“, um die Region bewusst als transnationalen Raum des Austauschs, der Verständigung und der gemeinsamen Entwicklung neu zu denken. Dank einer Vielzahl archivalischer Dokumente sowie mündlicher Quellen zu diesen grenzüberschreitenden Praktiken rekonstruiert die Forschung die Entstehung und Resonanz der Idee von „Alpe-Adria“. Das Projekt nutzt diese Geschichte als Linse, um die klassisch-dichotome Sicht auf ein zerrissenes Europa kritisch zu hinterfragen. Dadurch wird eine alternative Lesart der europäischen Zeitgeschichte erschlossen, die die Perspektive der Grenzregionen und ihrer Akteur:innen konsequent in den Mittelpunkt rückt.
Auf diese Weise zeigt sich, dass Grenzen nicht nur Ausdruck staatlicher Macht und Kontrolle, sondern zugleich Räume politischer und gesellschaftlicher Gestaltungskraft waren und sind – wahre „Borderscapes“, wie sie in neueren Forschungen bezeichnet werden. Gerade an diesen vermeintlichen Rändern entstanden durch die Initiative vor Ort innovative Lösungsansätze, die nationale und internationale Netzwerke beeinflussen und mitprägen. Der Alpen-Adria Raum unterstreicht somit eindrucksvoll die Autonomie und Handlungsfähigkeit von Grenzbewohner:innen im größeren europäischen Kontext und bietet ein Beispiel, das dazu einlädt, die europäische Gegenwartsgeschichte aus der Perspektive ihrer Grenzräume neu zu denken.